„Es sollte viel stärker das Positive gesehen werden…“
Dagmar Kaselitz, Integrationsbeauftragte des Landes M-V, über die Migrationspolitik seit 2015 und deren Herausforderungen
Die Themen „Migration“, „Flüchtlinge“, „Zuwanderungsgesetz“ und „Fachkräftemangel“ dominieren seit drei Jahren die öffentlichen Diskussionen. Diese Diskussionen polarisieren und werden oft undifferenziert und mit wenig Sachkunde geführt.
Noch immer kein Zuwanderungsgesetz
Das eigentliche Problem dabei ist, dass Deutschland kein Zuwanderungsgesetz hat, dass die Migration steuern könnte, was wiederum jedoch daran liegt, dass sowohl CDU als auch SPD ein derartiges Gesetz nicht wollten bzw. zu kraftlos waren, um dieses durchzusetzen.
Ein anderes Problem ist, dass nicht mehr zwischen Flüchtlingen und allgemeinen Migranten unterschieden wird. Wer ein Flüchtling ist, definiert die Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen und wer Asyl erhält, steht im Artikel 16 a des Grundgesetzes. Menschen, die politisch und religiös verfolgt werden, Zuflucht zu gewähren, deren Länder von Kriegen oder Umwelt-Katastrophen betroffen sind, zu helfen, sollte ohnehin nicht nur eine „Angelegenheit“ von Gesetzen, sondern der Herzen sein.
Begrenzte Aufnahmekapazitäten?!
Gleichwohl gilt, auch die Aufnahmekapazitäten Deutschlands sind begrenzt. Andere reiche Länder, wie Saudi-Arabien, Südkorea, auch die USA unter Trump, Australien oder Dänemark, nur fünf Beispiele von vielen, weigern sich, selbst Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. In der EU sind die verschiedenen Länder in dieser Frage auch tief zerstritten – wie es ebenfalls innerhalb Deutschlands der Fall ist.
Ursachen der Flucht erkennen
Nur: Wer unterstützte zwischen 1949 und 1990 ff. Diktatoren in der dritten Welt und wundert sich nun, dass – nachdem diese ihre Länder zerstörten – plötzlich viele Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland kommen? Genau, Westdeutschland und die DDR bzw. deren Folgestaat – das vereinte Deutschland.
Bestes Beispiel dabei ist Afghanistan. Es war ein solider Staat, bis 1979 – unter dem Beifall und bei propagandistischer bzw. materiell-finanzieller Unterstützung der DDR – die Rote Armee dort einmarschierte, um letztendlich das prokommunistische Nadschibullah-Regime zu installieren. Die Gegenseite, die USA, Saudi-Arabien und Westdeutschland, unterstützten die Fundamentalisten um Hekmatyar. Weder Nadschibullah noch Hekmatyar waren allerdings vom afghanischen Volk gewollt… Was blieb, ist ein Krieg gegen dieses Land und in diesem Land, der verheerende Folgen bis heute hat. Und dann werden Flüchtlinge, die diesen Namen verdienen, mittlerweile wieder dorthin zurückgeschickt – von deutscher Seite! Ein Skandal, der menschenverachtender nicht sein kann.
Exekution einer neuen Migrationspolitik seit 2015…
Die „Migrationspolitik“, sofern man von einer Politik sprechen kann, wurden seitens der „GroKos“ seit 2015 ohnehin nur exekutiert, aber nie hinreichend kommuniziert und erklärt. Die „gemeine Bürgerin“ und der „gemeine Bürger“ wurde – ohne fundierte politische Erklärung – vor vollendete Tatsachen gestellt, Nachfragen waren unerwünscht. Wer die Merkelsche Migrationspolitik in Frage stellte, wurde sogleich in eine rechtsextreme Ecke gestellt oder bestenfalls als fremdenfeindlicher Provinz-Trottel tituliert. Und die deutsche Wirtschaft will mit den Migranten ohnehin nur ihren Bedarf nach kostengünstigen Arbeitskräften befriedigen, so zumindest die Auffassung einiger Bürger…
Was läuft aber in der gegenwärtigen Migrationspolitik in Deutschland falsch?!
Der SCHWERIN-BLOG fragte bei Dagmar Kaselitz, Integrationsbeauftragte des Landes M-V nach
Dagmar Kaselitz über die aktuellen Diskussionen um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), unrechtmäßige Abschiebungen, die Herausforderungen der Integration, objektive Probleme der Migrationspolitik seit 2015 und ein neues Miteinander
„Es sollte viel stärker das Positive gesehen werden…“
Frage: Frau Kaselitz, gegenwärtig sorgt der Skandal um die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für rege Diskussionen. Ist das „BAMF“ in seiner aktuellen Struktur überhaupt noch zeitgemäß? Sind die Mehrzahl der dortigen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger mit der Vielzahl der zu bearbeitenden Fälle schlichtweg nicht überfordert?
Dagmar Kaselitz: Die Behörden – das BAMF zurzeit im Besonderen – und Menschen, die dort arbeiten, sind häufig einem besonderen politischen und öffentlichen Druck ausgesetzt. Politische Entscheidungen haben zu dem großen Arbeitsaufkommen geführt. Innerhalb der Behörde musste schnell reagiert werden. Schnell ist nicht immer sachlich und fachlich gut. Fehler können auftreten.
Aber Fehlentscheidungen sind nicht hinnehmbar. Auf sie muss hingewiesen werden. Sie müssen korrigiert und ihr Entstehen aufgeklärt werden. Ob daraus ein in der breiten Öffentlichkeit ausgetragener Skandal wird, hängt von uns allen ab.
Als Integrationsbeauftragte bin ich Mitglied der Härtefallkommission unseres Landes. Bereits zweimal konnte ich am Erfahrungsaustausch der Härtefallkommissionen aus allen Bundesländern im BAMF in Nürnberg teilnehmen. Dort habe ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennengelernt, die auch vom anstehenden Arbeitspensum berichteten.
Wir wurden jeweils aktuell über die Entwicklungen im Asylverfahren, die Aufbauorganisation und den Personalbestand der Behörde informiert. In diesem Jahr wurde von Umstrukturierungsplänen sowie von verbesserter Organisation im Bereich Qualitätsmanagement und Sicherheit berichtet. Ich hatte nicht den Eindruck, dass alle „schlichtweg…überfordert“ sind. Es ist aber durchaus eine große Herausforderung in einer Behörde mit mehreren Tausenden Beschäftigten.
Frage: Mitte Juli sorgte zudem die unrechtmäßige Abschiebung eines jungen Afghanen, der in Neubrandenburg wohnte, für extreme Diskussionen, wobei auch das Bundesinnenministerium „Fehler einräumte“. Wie bewerten Sie das Geschehen zu diesem Fall?
Dagmar Kaselitz: Solche Fehler dürfen nicht passieren. Ich bin froh, dass es Beteiligte im Verfahren gibt, wie hier die Anwältin des jungen Mannes, Sonja Steffen, die sich um Aufklärung und Einhaltung der Gesetze aktiv bemühen und die Rückholung möglich machen.
Meine Befürchtung ist, dass hier der politische Druck so groß war, dass schnell eine „erfolgreiche“ Abschiebung gemeldet werden sollte und nicht jeder Einzelfall eine ausreichende Prüfung erhielt. Gut finde ich aber, dass schnell Verantwortung übernommen und die Unrechtmäßigkeit der Abschiebung klar benannt wurde.
Frage: Die Migrationspolitik der „GroKo“ seit 2015 wurde nie hinreichend kommuniziert und erklärt, diese wurde eher exekutiert. Vieles verlief ungeordnet, unprofessionell und inkompetent ab. Integrationsmaßnahmen blieben Stückwerk. Die Regierung handelte „ohne Kompass und Konzept“ und überließ oftmals ehrenamtlichen Helfern die Aufgaben, die Migranten aufzunehmen bzw. zu betreuen. Wie beurteilen Sie die Migrationspolitik der „GroKos“ seit 2015?
Dagmar Kaselitz: Ich teile Ihre Einschätzung hier nicht in allen Punkten.Der starke Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden stellte ganz Deutschland vor große Herausforderungen, auch weil sich viele andere europäische Länder weigerten zu helfen. In allen Bundesländern musste schnell gehandelt und entschieden werden, mussten Hilfe sehr zügig organisiert werden.
Die logistische und finanzielle Herausforderung für Bund, Länder, Städte und Gemeinden sowie Hilfsorganisationen bzw. Behörden war enorm. Insgesamt ist uns das aber meines Erachtens gut gelungen, auch wenn im Rückblick betrachtet sicher so manche Entscheidung anders bewertet werden kann.
Für unser Bundesland kann ich feststellen, dass dank der Zivilcourage vieler Menschen, ihrem oft ehrenamtlichen Engagement in Zusammenarbeit mit zahlreichen Behörden eine gute Soforthilfe geleistet werden konnte. Schnell entstanden – auch ehrenamtliche – Strukturen, die sehr professionell organisiert waren.
Ich habe viele kompetente Menschen getroffen, die erste Hilfestellungen geben konnten und sich organisiert haben. Entscheidungen auf Landesebene wurden schnell getroffen. Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen kamen zusammen, reagierten kurzfristig auf aktuelle Entwicklungen und trafen rasch Entscheidungen.
Verwaltungen, Hilfsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kirchenvereine, die Bundeswehr, medizinisches Personal und zahllose ehrenamtlich Engagierte organisierten rund um die Uhr Betreuung, Transport und Integration.
MV gehört zu den drei Bundesländer in Deutschland, die den Kommunen eine weitgehende Kostenerstattung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben bei der Unterbringung und Betreuung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz garantierten und auch weiterhin garantieren. Die Kapazität der Erstaufnahmeeinrichtung in Horst wurde durch Standorte in Stern-Buchholz, Neubrandenburg und Basepohl erweitert.
Notunterkünfte wurden auch durch eine breite dezentrale Unterbringung in Wohnungen der Kommunen verhindert. Im März 2016 wurde das vielfach beachtete Integrationsbüro in Stern Buchholz eröffnet.
So konnten Aufnahme, Registrierung, medizinische Versorgung und erste Schritte der Integration an einer Stelle erfolgen. Im Bereich der Schulen wurden kurzfristig 100 Personalstellen zur Verfügung gestellt, um an Standortschulen zusätzlichen Deutschunterricht anzubieten.
Schwierigkeiten gab es durchaus zahlreiche. So denke ich an die Aufnahme der unbegleiteten minderjährigen Ausländer. Hier war zu Beginn nur der Landkreis Ludwigslust-Parchim zuständig, weil hier die Erstaufnahme Nostorf-Horst liegt.
Das hatte erhebliche Auswirkungen auf die Kapazität des zuständigen Jugendamtes, der Schulen und Berufsschulen. Betroffene hätten sich hier schnellere Lösungen gewünscht.
Um Aufgaben der Migration und immer stärker der Integration bewältigen zu können, ist ein starkes Bekenntnis von Bund, Ländern und Kommunen dazu notwendig.
Wollen wir wirklich Zuflucht und Heimat – manchmal auch nur vorübergehend -Â bieten? Wenn ja, dann sind klare Entscheidungen, klare Strukturen und eine gute Koordinierung notwendig. Hier gibt es Möglichkeiten, es noch besser zu machen. Die Strukturen, die wir haben, sind durchaus gut, sie müssen nur bekannter gemacht werden. Das gilt für alle Bereiche. Überall muss die Verantwortung erkannt werden.
Frage: Mit welchen Herausforderungen sind Sie derzeit im Bereich der Integration konfrontiert? Was ist dort zu meistern?
Dagmar Kaselitz: Die wichtigste Herausforderung für mich ist es, immer ganz nah bei den Menschen zu sein. Das sind die Migrantinnen und Migranten, die – egal ob sie nach einer Flucht oder wegen Arbeit, Studium oder Ausbildung – nach MV gekommen sind. Das sind aber auch alle, die im Haupt- oder Ehrenamt in der Integrationsarbeit engagiert sind.
Aufnahme, Unterbringung, Versorgung und Betreuung sind klar geregelt. Herausforderungen gibt es – regional auch sehr unterschiedlich – besonders beim ausreichendem Spracherwerb, bei der Wohnungssuche, bei der Integration in die Kinderbetreuung, bei der beruflichen Bildung und bei der Integration in Arbeit.
Es gilt, die Potenziale der Menschen, die zu uns gekommen sind, zu nutzen.                       Verhindern möchte ich, dass Strukturen, die sich in der Integrationsarbeit entwickelt haben, abbrechen, weil zahlenmäßig weniger Menschen zu uns kommen.
In zahlreichen Gesprächen weise ich zurzeit darauf hin, dass wir schnelle Entscheidungen zur weiteren finanziellen Ausstattung im Bereich Migration und Integration benötigen. Das ist auch wichtig für die Entscheidung zur Fortführung des Integrationsfonds im Land.
Gegenwärtig erfolgt die Erarbeitung unseres Integrationskonzeptes, das im Frühjahr 2019 den Landtag erreichen soll. Diesen Prozess begleite ich intensiv. Gemeinsam mit dem Landesseniorenring, der Ehrenamtsstiftung, der Landeszentrale für politische Bildung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und weiteren Partnern bereite ich eine landesweite Integrationskonferenz am 8.November, also noch in diesem Jahr, vor.
Ich möchte durch mein Wirken dazu beitragen, Mitmenschen zu überzeugen, dass uns Integration immer besser gelingt, wenn wir gleichberechtigt, ganz natürlich miteinander leben.
Wir können dabei selbst sehr viel lernen und unser Leben mit neuen Erfahrungen bereichern. Es sollte viel stärker das Positive gesehen werden.
… Eine Schlussbemerkung zu allen Fragen:
Letztendlich arbeiten, gestalten und entscheiden an allen Stellen Menschen. Ein französischer Philosoph prägte die Worte: „Menschlichkeit ist die wichtigste aller Tugenden“.
Davon bin ich zutiefst überzeugt. In diesem Sinne handle ich und erwarte es auch von den Menschen um mich herum, von Entscheidungsträgern auf allen Ebenen – vom Bund bis zur kleinsten Kommune. Ganz oft erlebe ich mein Gegenüber so.
Wenn nicht, ist es meine und unser aller Aufgabe, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Persönliche Gespräche, Rücksprachen mit Vorgesetzten, Anfragen an Aufsichtsbehörden und letztlich das Hinterfragen von Entscheidungen bzw. Regelungen sowie die Suche nach neuen Wegen sind Optionen, die ich nutze.
Nicht immer werden dadurch Meinungen, persönliche Haltungen oder Entscheidungen und Regelungen, die zuvor mehrheitlich entschieden wurden, verändert. Akzeptieren und tolerieren fällt nicht immer leicht – ist aber oft notwendig.
Vielen Dank und weiterhin bestes Engagement bei der integrativen Arbeit!
M.Michels